Wort zum Wochenende: Oster-Augen sehen mehr

Von Pfarrer Reinhold Völler, Evangelisches Pfarramt Michelrieth

In einigen französischen Dörfern hat sich ein interessanter Brauch erhalten: Wenn am Ostersonntag in der Frühe zum ersten Mal die Kirchenglocken läuten, laufen Kinder und Erwachsene zum Dorfbrunnen und waschen sich die Augen mit dem kühlen und klaren Brunnenwasser. Ob die, die Jahr für Jahr mitlaufen und sich die Augen reiben, wohl ahnen, dass sie sich selbst mit diesem Brauch eine eindrucksvolle Osterpredigt halten?

Das Thema dieser Predigt ohne Worte: Ostern schenkt einen neuen Blick, neue Augen. Oster-Augen wünsche auch ich mir am Festtag und viele Oster-Augenblicke in den kommenden Tagen und Wochen, denn: Oster-Augen können entdecken, dass im Menschen Jesus von Nazareth das Leben endgültig zum Durchbruch gekommen ist, ein – trotz Leid und Tod – erfülltes und gutes Leben, so wie Gott sich wahres Leben vorstellt.

Oster-Augen verschließen sich nicht vor der Not. Sie nehmen die vielen Todessignale in unserer Umgebung wahr, sie haben einen Blick dafür, wo das Leben zu kurz kommt oder ganz auf der Strecke bleibt, wo einer mundtot gemacht wird, wo einer unter die Räder kommt. Sie erkennen, wo wir aufstehen müssen, einen Aufstand machen müssen gegen Eingefahrenes und Erstarrtes.

Oster-Augen lassen sich aber auch leichter zudrücken. Sie sehen die eigenen Fehler und können so über die Schwächen der anderen gelassen und großzügig hinwegsehen.

Oster-Augen sehen weiter. Sie bleiben nicht auf das Schwierige und Unsympathische fixiert, das mir an meinem Gegenüber zuerst auffällt, sondern schauen hinter die unangenehme Fassade und entdecken den anderen, so wie Gott ihn sich gedacht hat. Sie sehen einen Weg, wo vorher keiner war, und im Ende schon einen neuen Anfang.

Solche Oster-Augen wünsche ich mir, und ich hoffe, ich bekomme sie geschenkt – vielleicht durch das Hören der befreienden Botschaft dieses Festes, vielleicht durch die intensive Mitfeier der Ostergottesdienste mit ihrer ausdrucksstarken Symbolik.

Abstelle eines Oster-Hasen wünsche ich mir solche Oster-Augen, aber ich weiß genau: Wenn sie mir geschenkt werden, bin ich für sie verantwortlich, für ihre Offenheit, für ihre Weitsicht. Dann heißt es für mich: Oster-Auge, sei wachsam!

Ihnen allein ein frohes und gesegnetes Osterfest

Pfarrer Reinhold Völler, Evangelisches Pfarramt Michelrieth



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